Ein Wahlrecht der betrogenen Wähler

Olav Gutting MdB veröffentlicht Mitgliederbrief des CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz (#MerzMail141)

Liebe Leserin, lieber Leser, die Ampelfraktionen haben heute mit ihrer Mehrheit ein neues Wahlgesetz für die Wahlen zum Deutschen Bundestag durchgesetzt. Alle Versuche, mit der Ampel einen Kompromiss zu erzielen, sind gescheitert.

Das Wahlrecht ist der Maschinenraum der Demokratie. Das Wahlrecht muss parlamentarische Mehrheiten nach dem Willen des Volkes ermöglichen und zugleich die unterlegenen Minderheiten ausreichend schützen. Im Respekt vor der Minderheit erst beweist sich die Qualität eines Wahlrechts.

Es war deshalb über Jahrzehnte gute Tradition, Wahlrechtsänderungen immer mit breiten Mehrheiten im Deutschen Bundestag zu verabschieden. Die heutige Entscheidung verletzt in besonders rücksichtsloser Weise diese bisherige Übung, denn die Ampel verbindet mit ihrem Wahlgesetz einen besonders tiefen Einschnitt in den Kernbestand unseres bisherigen Wahlrechts.

Wir waren uns über alle Fraktionen im Deutschen Bundestag hinweg immer einig, dass der Bundestag zur nächsten Bundestagswahl deutlich kleiner sein muss. Das war und bleibt nicht ganz einfach umzusetzen, wenn wir bei einem deutlich veränderten Wählerverhalten gegenüber der Zeit, in der das Bundeswahlgesetz erstmalig formuliert wurde, bei einem personalisierten Verhältniswahlrecht bleiben wollen. Bei einem Wahlrecht also, mit dem zunächst die Wahlkreisabgeordneten gewählt werden und dann mit der Zweitstimme über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages insgesamt entschieden wird.

Die in den Wahlkreisen gewählten Abgeordneten sind nach dem Willen der Ampel in Zukunft von einer „Zweitstimmendeckung“ abhängig, also einer ausreichenden Zahl von Stimmen für die Partei, der die Kandidaten angehören. Das war für sich genommen schon eine substanzielle Veränderung unseres Wahlrechts, weg von der Erststimme, hin zur Zweitstimme. In dieser Woche nun, wenige Tage vor der Abstimmung, hat die Koalition dann einen weiteren Änderungsantrag in die Beschlussfassung eingebracht, oder „hingerotzt“, wie es der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei formulierte. Er sieht vor, dass den gewählten Wahlkreisabgeordneten nur dann das Mandat „zugeteilt“ wird, wenn ihre Partei bundesweit mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen erreicht. Für Parteien also, die nur in Teilen der Bundesrepublik Deutschland, also in bestimmten Regionen oder Bundesländern, Kandidaten aufstellen und auch nur dort als Parteien kandidieren, wird der Sitz im Deutschen Bundestag von einem bundesweiten Ergebnis abhängig gemacht, auf das diese Parteien außerhalb ihres Bundeslandes oder ihrer Region keinen Einfluss haben. Für regional stark verankerte Parteien -und dies muss ja nun beileibe nicht nur die CSU in Bayern sein- wird ein Mandat im Deutschen Bundestag selbst bei überragenden Wahlergebnissen in den Wahlkreisen ein nur sehr schwer erreichbares Ziel werden. Es werden Millionen von Erststimmen ohne Auswirkung auf das Wahlergebnis unter den Tisch fallen. Wir bekommen ein Wahlrecht der betrogenen Wähler.

Diese Mechanik haben in der Kürze der Zeit fast alle Sachverständigen aus der Wahlrechtskommission sehr kritisch bewertet. Trotzdem hat die Ampel das neue Wahlrecht heute durchgesetzt. Meine Bitte um eine Atempause von zwei Wochen, um vielleicht doch noch einen Kompromiss zu erreichen, hat die Ampel ebenfalls abgelehnt. Die in den Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie früher besonders empfindsame FDP hat die heutige Wahlrechtsänderung besonders lautstark befürwortet.

Wir werden dieses Wahlrecht natürlich vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüfen lassen. Aber der Schaden für unsere Demokratie und die Verletzung des Vertrauens der Wählerinnen und Wähler in die Institutionen unseres Staates sind mit dem heutigen Tag längst eingetreten. Willkürliche und von der Mehrheit rücksichtslos durchgesetzte Wahlrechtsänderungen kannten wir in Deutschland bisher nicht. Der Bundeskanzler spricht immer wieder von „Respekt“, und davon, dass wir alle uns „unterhaken“ sollten. Wenn es um die eigenen parteipolitischen Interessen geht, dann gelten solche Worte offenbar ziemlich wenig.

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